[KGFestival] Die Meisterschaft des ersten Satzes

Vor ungefähr zehn Jahren habe ich mit meiner ersten Autorengruppe monatliche Kurzgeschichtenduelle veranstaltet. Es wurden zwei Schreiber gelost, die erst danach ihr Thema erfahren haben, wie z.B. „Das Blut der Erde“, „Im Schatten der Messingsense“, „Das Geheimnis des Marmorgartens“, „Die weißen Federn der Hölle“… Eine Woche lang hatten sie Zeit, eine Geschichte zu schreiben – das führte häufig dazu, dass die Geschichte an einem einzigen Abend, maximal zwei, entstand.

Ungeachtet der kurzen Entstehungszeit wurden die Geschichten danach von den Kritikern aufs Ausführlichste auseinander genommen. In diesen Duellen habe ich sehr viel über das Schreiben gelernt.

Einer unserer Freunde hat immer die „Meisterschaft des ersten Satzes“ und die „Meisterschaft des letzten Satzes“ beurteilt.

Bei jeder Art von Literatur sind der erste und der letzte Satz wichtig, aber gerade bei Kurzgeschichten sehr entscheidend. Die meisten Kurzgeschichten werden nicht singulär beworben (außer man ist der Stargast einer Anthologie oder gehört zum festen Autorenkreis und hat schon Fans). Ein Dutzend Geschichten oder mehr wartet in der Anthologie auf den Leser gelesen. Der erste Satz einer Geschichte ist entscheidend dafür, dass er sie jetzt (oder jemals) liest.

Während ich mit letzten Sätzen inzwischen ziemlich gut zurecht komme, bereitet der erste Satz mir immer einiges an Kopfzerbrechen. In der Regel schreibe ich den finalen ersten Satz während der Überarbeitung der Geschichte, außer ich nutze das Foreshadowing und baue bereits beim Plotten auf den ersten Satz auf.
Hier habe ich mehrere Möglichkeiten zusammen gestellt, die Aufmerksamkeit des Lesers an die Kurzgeschichte zu binden und ihn zum Lesen zu verführen:

  • „Pass auf!“ – Kurzgeschichten sollen mitten in der Geschichte beginnen, und häufig wählt der Autor eine gefährliche Situation als Beginn. Vielleicht sogar einen akuten Angriff oder eine Fluchtbeschreibung.
    Hierbei gibt es verschiedene Methoden, dies umzusetzen. Oft kommt eine unspezifische Warnung einer Figur an eine andere, vielleicht sogar als gesprochener Satz, eine Warnung beispielsweise.
    Das ist leider genau das, was mich persönlich als Leser überhaupt nicht einfängt! In der Regel sind es unbekannte Figuren, vielleicht sogar nur für diese Kurzgeschichte entwickelt. Zu denen habe ich noch gar keinen Bezug. Falls keine Namen genannt werden, habe ich noch weniger Anhaltspunkte.
    Für mich persönlich ist die Verortung bei solchen Gefahrsituationen zu Beginn ganz wichtig. Wenn ich die gefährliche Situation mit dem ersten Satz direkt etwas zuordnen kann, werde ich auch von der Geschichte gefesselt. Das müssen keine Namen oder Orte sein, die man kennt, aber wenn ich weiß, was die Person in Gefahr gerade macht (auf einen Baum klettern, auf einem Pferd sitzen, auf einem Schiff sein), wenn ich die Gefahrensituation zumindest rudimentär vor Augen habe, kann ich auch mit einer unbekannten Person mitfühlen: fall nicht runter! Hoffentlich scheut das Pferd nicht! Autor, sag mir nicht, dass jetzt Piraten auf das Schiffchen zusteuern!
    Die simple Warnung einer Gefahr ist die kürzeste und prägnanteste Weise, um mit einer Kurzgeschichte zu beginnen, leider auch für mich als Leser die am wenigsten attraktive.
  • Atmosphäre.
    Vielleicht gilt das bei vielen als No-go bei Kurzgeschichten. Da Verortungen recht wichtig sind, um mein Interesse zu fesseln, ist das der Beginn, der mich am meisten als Leser beeindruckt. Das muss auch gar nicht lang sein:

    Einst zogen vier Ritter fort vom kaiserlichen Palast.
    („Wie der erste Kaiser der Unicornus-Dynastie geboren wurde“, Hendrik Lambertus, Einhörner, Verlag Torsten Low.)

    Das ist an Kürze fast nicht zu unterbieten, aber es ist sofort klar, dass kein modernes Setting vorliegt, sondern eine märchenhafte Geschichte auf den Leser wartet. Die präzise Erwähnung von vier Rittern lässt mich gleich an bestimmte Erzählmuster denken.
    Hier weiß der Leser sofort, ob er weiter lesen oder weiterblättern möchte.

    Ich bin nur ein einfältiger alter Vogel, der in seinem viel zu langen Leben viel zu viel gesehen und zu wenig gelernt hat. („Wenn ich sprechen könnte…“, Andrea Bienik, „Die Damen der geschichte“, Art Skrip Phantastik Verlag.)

    Das zählt fast als kryptischer Satz, aber der Leser weiß vom ersten Satz an, dass die Autorin einen äußerst ungewöhnlichen Erzähler gewählt hat.

  • Kryptischer Satz.
    Auch eine Möglichkeit, eine Geschichte zu beginnen. Kryptisch heißt hierbei jedoch nicht, dass er an sich unverständlich sein und ein einziges Enigma sein darf. Es müssen spezifische Vorstellungen des Lesers auf den Kopf gestellt werden – wie bei Andrea Bienak die Default-Stellung des Erzählers als Mensch.
    Ein weiteres Beispiel kommt auch aus der Sword and Sorceress-Reihe:

    „Ihr Fuß hatte die Erde nie berührt.“ (Frisches Blut, Polly B. Johnson, Sword and Sorceress IV).

    Die Geschichte dreht sich letztendlich um die junge Herrscherin eines an Maya angelehnten Volkes und die Beschränkungen, die ihr trotz ihrer Macht auferliegen. Aus denen sie sich möglicherweise befreit, oder möäglicherweise auch nicht (lest die Geschichte! Sie ist sehr gut.)

  • Foreshadowing.
    Eine weitere Methode, die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln, ist eine Art Foreshadowing, die das Thema der Geschichte einführt. Kurzgeschichten sollten ohnehin wie eine Klammer aufgebaut sein, Anfang und Ende greifen ineinander – bei phantastischen Kurzgeschichten ist ein zumindest vorläufiger Abschluß auch eher die Regel als die Ausnahme.

    In den Jahren, wenn der Schnee nur leicht auf die Berge auf die fernen Berge fällt, fließt der Fluss Gorquin nur langsam, und das Wasser steht niedrig in seinem Bett. (Der Tod und die Häßliche, Bruce D. Arthurs, Sword and Sorceress IV).

    Das ist auch ein super Beispiel für Atmosphäre. Da in der Geschichte, die ich hier rezensiert habe, der Fluß und die Gefahr seines Tiefstandes eine wichtige Rolle spielen, sehe ich das als Foreshadowing an.
    Nachdem ich hier so viele Positiv-Beispiele anderer Autoren gebracht habe, wirkt es hoffentlich nicht seltsam, wenn ich mich mal selbst zitiere:

    „Die golden schimmernde Klinge schwebte über meinem Haupt und verhöhnte mich.“ (Im Schatten der Messingsense“, Meara Finnegan, „Dampfkochtopf“, Verlag ohneohren.)

    In der Geschichte geht es um einen technologiekritischen Journalisten, der vergeblich versucht, auf die Gefahren und Mißstände der neuen Technologisierung hinzuweisen, und der ganz im Schatten seines Konkurrenten und dessen Reportage über eine besondere neue Statue steht.
    Ich habe keine Ahnung, wann und wie ich auf diesen ersten Satz gekommen bin (irgendwann nach Fertigstellung des First Draft), doch ich finde, er deutet das Thema der Geschichte bereits gut an.

    Jetzt bin ich neugierig, wie die anderen das machen: wann schreibt ihr euren ersten Satz, der auch wirklich Beginn der Kurzgeschichte ist – direkt zu Beginn oder am Ende, nach der Überarbeitung? Welche Art ersten Satz wählt ihr?

    Ich könnte mir vorstellen, dass das auf Twitter besser funktioniert 😀 vielleicht darf ich einige Antworten als Bild herüber kopieren.

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