[Kurzgeschichte] Der arme kleine Goblin

Phantastik und insbesondere Fantasy werden häufig mit Eskapismus verbunden. Dabei ist die Wahl dieses Setting oft ein Weg, um ganz aktuelle Probleme oder Ängste zu verarbeiten. Auch Tolkien hat im Herrn der Ringe seine Kriegserfahrungen verarbeitet (mehr Infos in „Gewalt, Konflikt und Krieg bei Tolkien. Hither Shore 6“ oder „Tolkien und der Erste Weltkrieg“ von John Garth). 

Aus aktuellem Anlaß gibt es heute bei meiner Blogparade eine Kurzgeschichte.

Triggerwarnung für: Rassismus, Gewalt, Blut.

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Früh am Morgen stand der arme kleine Goblin auf. Sein Tagewerk war lang und vielfältig, und er war ganz auf sich alleine gestellt. Seine Kameraden waren abgezogen worden, um die Offiziere zu eskortieren, die in den prächtigen Hallen ein rauschendes Fest feierten. Und der arme kleine Goblin musste sich darum kümmern, ihre Träume wahr werden zu lassen.
Wie jeden Morgen stellte er sich vor dem gerahmten Bild des Herrschers auf und schlug mit feierlichem Gesichtsausdruck die Faust an die Brust. Einige Minuten verharrte er in stiller Kontemplation und dachte an das eine Mal, als er ihm in den Bergen des Schicksal begegnet war. Sein Herrscher hatte ihm sogar die Hand gegeben und gesagt, dass er gute Arbeit leistete und so weiter machen sollte. Er hatte mit ihm persönlich gesprochen! Fast glaubte der arme kleine Goblin, das Bild würde ihn ebenfalls ansehen. Nur ihn.
Da klopfte es lauthals an der Türe, und er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Verärgert ging er durch die Küche und öffnete sie. Seine Stirn glättete sich, als er einen seiner Nachbarn erkannte. Einen Moment besann er sich und atmete tief durch, um ein freundliches Gesicht zu zeigen, wie es ein guter Nachbar tat.
Und es war wichtig, ein guter Nachbar zu sein, besonders für kleine Goblins.
Nachdem er endlich den Mann abgewimmelt hatte, ging er zum Fenster und nahm seine Briefe aus dem Taubenschlegel. Er blätterte sie flüchtig durch, bis er eine weibliche Handschrift sah.
Myriella.
Sein Herz setzte einen Schlag aus. Dann warf er den Brief entschlossen zum Feuerholz. Unter großen Schmerzen hatte er diese Beziehung beenden müssen. Noch vermisste er sie, doch er konnte keinesfalls eine Frau nehmen, die nur zum Teil ein Goblin war. Seine Kameraden hatten immer gespottet, da ihre Haut nur blass grün war und sie ihn um einen ganzen Kopf überragte. Dennoch war es ein Schock gewesen, dass ihr Vater ein Albe gewesen war.
Als Erstes öffnete er den offiziell aussehenden Brief aus den Bergen des Schicksals. Er hatte doch sein Soll erfüllt, was konnte man mehr verlangen?
Doch ihr geliebter Herrscher brauchte offensichtlich eine noch größere Menge Goldessenz, um seine Lebenskraft wieder her zustellen.
Zum Glück hatte der arme kleine Goblin eine vorbildliche Vorratshaltung betrieben.
Entschlossen ging er nebenan in sein Arbeitszimmer, zog sich eine Schürze über und nahm eines seiner besten Messer. Vorsichtig prüfte er mit dem Daumen die Klinge – das musste dennoch geschärft werden.
„Bitte“, flehte eine zitternde Stimme hinter ihm. Doch der arme kleine Goblin konzentrierte sich auf seine Arbeit.
Schließlich wandte er sich um und prüfte die Fesseln des Alben. Ein junges, kräftiges Exemplar, das ihm für das Erste reichen würde.
„Nicht…“, begann der Alb, der trotz seiner schmalen Nase, seiner hohen Stirn und des spitzen Gesichtes erstaunlich lebendig aussah. Fast wie ein Mensch, oder sogar einem Goblin ähnlich. Kurzerhand stopfte der kleine Goblin ihm einen Knebel in den Mund und stülpte ihm noch einen Sack über das Gesicht. Zufrieden nickte er.
Dann setzte er mit einer Präzision, die nur durch viel Übung erlangt werden konnte, die ersten Schnitte, um den Alben auszubluten. Sorgfältig fing er das Blut in Glasphiolen auf und freute sich, als sie golden schimmerten.
Erneut klopfte es an der Türe. Unschlüssig überlegte der kleine Goblin. Sollte er so tun, als wäre er nicht zu Hause? Aber das tat ein guter Nachbar nicht, und es war doch wichtig, ein guter Nachbar zu sein, besonders für kleine Goblins.
Also legte er das Messer beiseite, wischte sich flüchtig die Hände ab und öffnete die Eingangstüre.

„Herr Goblin, ich wollte mir eine Tasse Zucker ausleihen“, sprudelte die Frau des Schneiders hervor und blickte auf seine blutbespritzte Schürze.
„Störe ich Sie bei etwas?“
„Ich bin tatsächlich unter Zeitdruck, aber eine Tasse Zucker kann ich für Sie natürlich finden“, sagte der kleine Goblin und ging in die Küche. Neugierig lief ihm die Schneidersfrau hinterher und blickte durch die offene Türe in das Arbeitszimmer. Das leise Stöhnen des sterbenden Alben zog die Aufmerksamkeit des armen kleinen Goblins auf sich.
„Hier ist Ihr Zucker“, sagte er und zupfte die Schneidersfrau an ihrer Bluse.
Ruckartig wandte sie sich um. „Vielen Dank! Dann kann ich ja doch einen Kuchen backen. Ich gebe es ihnen morgen zurück!“, versprach sie.
„Das hat keine Eile“, sagte der arme kleine Goblin.
„Sie sind so ein guter Nachbar!“
Wenn er sich beeilte, konnte er die Phiolen mit dem Albenblut noch per Taubenpost fortschicken…
Doch das Schicksal meinte es an diesem Tag nicht gut mit dem armen kleinen Goblin. Als er gerade fortfahren wollte, brach mit einem Krachen die Türe auseinander. Entsetzt starrte er auf das gesplitterte Holz. Eine hünenhafte Frau mit wallendem roten Umhang stürmte hinein und bedrohte ihn mit einem Schwert.
Der kleine Goblin war jedoch weit flinker auf den Beinen, als es den Anschein hatte, und so wich er immer wieder der Amazone aus.
„Hilfe!“, rief er laut und duckte sich unter den Küchentisch.
„Hilfe? Du verdienst keine Hilfe. Ich werde dich töten, du Bestie!“, zischte die rotgewandete Frau hasserfüllt. Energisch trat sie gegen den Tisch. Mit einem lauten Krachen fiel der schwere Eichentisch um, und der arme kleine Goblin konnte nur so eben sich retten.
„Hilfe, hilfe!“, kreischte er lauthals und flüchtete in seinen Arbeitsraum.
Blitzschnell duckte er sich unter den Tisch, und kniff die Augen zusammen.
Die Kriegerin stürmte ihm nach. Doch mit einem Mal verstummten ihre Schritte, und einige seltsame leise Geräusche erklangen.
Vorsichtig öffnete der arme kleine Goblin ein Auge und schielte unter der Tischkante empor.
Die rotgewandete Frau blickte entsetzt über ihn, auf den Tisch. Tränen standen in ihren Augen.

Da kündete lautes Poltern das Eintreffen von seinen Nachbarn an, und der kleine Goblin atmete auf. Ein halbes Dutzend Menschen kam hinein gestürmt, allen voran der Metzger mit einem Hackebeil. Der Magistrat natürlich ganz hinten, wo es nicht gefährlich war.
„Herr Goblin!“, rief der Metzger entsetzt und starrte auf die fremde Frau. „Das Schwert fallen lassen! Was zur Hölle tun sie hier?“
Fassungslos starrte die Amazone sie an und deutete auf den Tisch mit dem ausgebluteten Alben.
„Herr Goblin!“, rief der Metzger lauthals, und zerrte den armen kleinen Goblin unter dem Tisch hervor. Sein Hemd wurde mit Blut beschmiert. Die Glasflaschen des Goblins waren nicht nur voll, sondern liefen bereits über.
„Herr Goblin, geht es Ihnen gut?“
„Ich bin nicht verletzt“, sagte der arme kleine Goblin schwach und winkte zu der Frau.
Gemeinsam entwaffneten der Braumeister und der Bäcker die Frau und zerrten sie hinaus. Ihre schrillen Protestrufe schmerzten in den Ohren des kleinen Goblins. Prüfend ging der Magistrat durch den Raum und rutschte auf eine Blutlache aus. Haltsuchend griff er um sich und bekam das kalte Albenbein zu packen. Mühsam blieb er auf den Beinen und blickte in die Runde.
„Sonst sind hier keine Eindringlinge? Sind Sie alleine?“, fragte er den Goblin besorgt.
„Ja… Sie kam einfach rein und wollte mich töten!“, sagte der arme kleine Goblin fassungslos.
„Ohne Provokation?“, fragte der Magistrat eindringlich, blickte seine blutbeschmierte Hand an und wischte sie gedankenverloren an seiner Hose ab.
„Vollkommen ohne Provokation!“
„Ich fürchte, Sie müssen noch einmal mit rauskommen, Herr Goblin“, sagte der Magistrat besorgt und stützte den kleinen grünen Mann auf dem Weg.
Auf der Straße hatte sich derweil eine hitzige Diskussion entwickelt.
„Was ist hier los?“, begehrte der Magistrat zu erfahren und versuchte seine Autorität wieder her zustellen.
„Diese Frau behauptet, unser Herr Goblin sei ein Verbrecher! Und ein Mörder!“
„Haben Sie Beweise für diese Anschuldigungen?“, fragte der Magistrat misstrauisch.
Stumm deutete die Amazone auf den armen kleinen Goblin, der in seiner blutbesudelten Arbeitsschürze verloren vor seinem kleinen Häuschen stand.
Alle Bürger blickten zu dem kleinen grünen Mann, der ängstlich zitterte und ein Bild des Jammers darbot.
„Also keine Beweise?“, fuhr der Magistrat fort. „Wer sind sie überhaupt?“
„Ich bin eine Kriegerin des Roten Kreises, und unsere Aufgabe ist es, das Böse zu vernichten!“, rief die Amazone empört aus.
„Ach, der Rote Kreis“, sagte der Magistrat abfällig und die anderen Bürger murmelten ebenfalls. „Der ist uns bekannt, meine Dame. Wir haben schon öfters Probleme gehabt, dass sogenannte Krieger erscheinen und Probleme suchen, die es gar nicht gibt.“
„Nicht gibt?“, schrie die Amazone entsetzt auf.
„Das ist eine friedliche kleine Ortschaft, und wir möchten, dass das auch so bleibt“, sagte der Magistrat streng. „Für Querulanten und Problemsucher ist hier kein Platz. Hier wohnten zuvor schon Angehörige des Roten Kreises, die Ärger gemacht haben. Sie sind dann weggezogen oder wurden ausgewiesen.“
„Wir haben hier keine Probleme“, bestätigte die Frau des Bäckers und funkelte die Kriegerin feindselig an.
„Aber das ist ein kleiner Goblin, der dem dunklen Herrscher dient!“, wandte die rote Frau fassungslos ein. „Er will ihm helfen, die Welt zu unterjochen und Tausende umzubringen!“
„Wir haben hier keine Probleme“, wiederholte die Bürgerin feindselig.
„Der Herr Goblin ist ein ganz ruhiger Mitbürger“, wandte die Metzgersfrau ein.
„Ordentlich.“ – „Sehr sauber…“ – „… und er trennt immer seinen Abfall!“– „Pünktlich, auch wenn….“ – „So hilfsbereit, heute erst konnte ich eine Tasse Zucker leihen, obwohl ich zu einer unmenschlichen Zeit geklingelt habe.“
Die Augen des armen kleinen Goblin wurde feucht, als sich seine Mitbürger so sehr für ihn einsetzten. Er hatte auch hart dafür gearbeitet, ein solches Ansehen zu erlangen. Dennoch tat es gut zu sehen, wie die Gemeinschaft ihn schützte.
„Kommen Sie rein, Herr Goblin“, sagte die Krämersfrau und führte ihn zurück in das Haus.
„Sollen wir Ihnen beim Aufräumen helfen?“
„Das geht schon“, sagte der kleine Goblin, der noch so viel Arbeit vor sich liegen hatte. „Ich möchte erst einmal… alleine sein…“
„Aber natürlich! Sagen Sie uns nur Bescheid, wenn Sie etwas brauchen!“

 

Mit einem Seufzen kehrte der arme kleine Goblin zurück in das Arbeitszimmer und berührte prüfen die Hand des Alben. Sie wurde bereits kalt und steif. Das war nicht gut; alles war soviel mühsamer, wenn die Leichen bereits abgekühlt waren. Und er musste noch Haut und Haare entfernen, der Herrscher konnte alles brauchen.
Vielleicht schaffte er es nicht, alles am heutigen Tage in die Taubenpost zu bringen. Dass er die Order erst vor wenigen Stunden erhalten hatte und bereits keine Zeit verloren hatte, da er noch einen Alben in seinem Verlies vorrätig gehabt hatte, interessierte niemanden.
Er war eben nur ein armer kleiner Goblin, herumgeschubst und mißachtet von jedermann, dazu bestimmt, die Drecksarbeit zu machen. Doch wenn sein Herrscher erst einmal aus den Bergen des Schicksal zurück kehrte und das Zepter an sich nahm, würde alles anders werden. Sein Beitrag für die Sache würde gewürdigt werden.

Und jeder Tag, an dem er ungehindert daran arbeiten konnte, brachte das Regimes seines Herrscher ein wenig mehr zurück.

 

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