In dieser Blogreihe stellen wir Heldinnen vor. Weil Frauen viel zu oft unsichtbar sind, im Leben und in der Phantastik.
Wo begegnet uns Lúthien?
Lúthien ist eine Figur aus JRR Tolkiens Fantasywelt Mittelerde. In den bekannteren Werken „Der Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“ wird sie nur am Rande als bedeutende historische Persönlichkeit erwähnt. Im „Silmarillion“, der Aufarbeitung von Professor Tolkiens literarischen Nachlass durch dessen Sohn Christopher, wird ihre eigene Geschichte erzählt. Professor Tolkien entwickelte die Geschichte Luthiens und ihres Geliebten Beren ebenso wie die Geschichte Mittelerdes im Verlauf mehrerer Jahrzehnte und wandelte sie dabei mehrfach ab.
Nach der letzten, von Christopher Tolkien veröffentlichten Fassung, war Lúthien die Tochter des Sindar-Elbenkönigs Olwe (Beiname „Thingol“, d.h. Graumantel) und der Maia Melian, einem der götterähnlichen Wesen, die für Erú die Erschaffung der Welt verwirklicht hatten. Vielleicht kann man die Maia mit den Engeln des christlichen Glaubens vergleichen, die Valar mit Erzengeln? Professor Tolkien war ein gläubiger Katholik!
Lúthiens Erlebnisse im „Silmarillon“
Luthien lebte in Thingols und Melians Königreich Doriath unter dem Schutz der Zauberkraft ihrer Mutter („Melians Gürtel“, einem magischen Schleier). Trotz der auf dem Subkontinent Beleriand tobenden Kriege zwischen den Menschen und Elben gegen den gestürzten Vala Melkor/Morgoth wuchs sie behütet auf. Lúthien wird als das schönste Lebewesen bezeichnet, das jemals in Mittelerde gelebt hat.
Auf der Flucht vor seinen Verfolgern erreichte Beren, der Sohn des verratenen und ermordeten Widerstandskämpfers Barahir, verletzt und erschöpft das Königreich Doriath. Er verliebte sich unsterblich in Lúthien, als er sie auf einer Waldlichtung tanzen sah. Auch sie verliebte sich in ihn. Der Musiker Dairon (in älteren Fassungen ihr Bruder), der ihre Tänze musikalisch begleitete, wurde eifersüchtig und verriet sie an den König. Dieser ließ Beren ergreifen und zu sich bringen. Als Beren die Stirn hatte, um die Hand Lúthiens zu bitten, stellte ihm Thingol eine unerfüllbare Aufgabe: Beren sollte ihm als Brautpreis einen der drei Silmarilli bringen, die Melkor/Morgoth den Noldor-Elben gestohlen und in seine Krone hatte einsetzen lassen. Diese Steine waren vom Elbenkünstler Féanor hergestellt und mit dem ursprünglichen Licht des Segensreiches Valinor gefüllt worden, bevor Melkor/Morgoth die Lichtquelle zerstört hatte. Um die Silmarilli wieder zu erlangen und die Ermordung Féanors zu rächen, hatten die Noldor unter der Leitung von dessen Erben Valinor verlassen, mit den Valar und Maia gebrochen und sich sogar schwerer Verbrechen gegen verwandte Elbenvölker schuldig gemacht. Die Brisanz dieses Auftrags war also offensichtlich. Dennoch machte sich Beren auf den Weg, um diesen zu erfüllen.
Er zog zunächst in das Elbenkönigreich Nargothrond, wo einer der Erben Féanors herrschte, Finrod Felagund, der ihm Hilfe zusagte wegen der Verdienste Barahirs. Gemeinsam mit einigen Untertanen Felagunds zogen sie weiter, wurden aber gefangen genommen und in Melkors/Morgoth´ Festung Angband eingesperrt. Da sie nicht verraten wollten, wer sie waren, ließ Melkor/Morgoth die Gefährten einen nach dem anderen foltern und töten, bis nur noch Beren übrig war.
Indessen hatte sich Lúthien durch ihre Zauberkräfte aus dem Arrest befreien können, den ihr Vater über sie verhängt hatte, und war Beren nachgereist. In Nargothrond hatten die anderen Noldorprinzen, die ihrem König Felagund den Verstoß gegen das Erbe Féanors verübelten, die Macht entrissen. Sie hielten Lúthien fest und verlangten von Thingol, sie mit einem von ihnen zu verheiraten. Der aus Valinor stammende Hund Huan kündigte aber seinem Herrn, einem der Prinzen, wegen der begangenen Treuebrüche den Gehorsam auf und verhalf Lúthien zur Flucht. Lúthien gab sich und Huan durch Zauberkraft andere Gestalten, und so erreichten sie unbehelligt Angband. Als sie vor Melkor/Morgoth gebracht wurden, gelang es ihr, seinen Hofstaat und ihn selber in Schlaf zu versetzen. Huan und sie weckten Beren auf und dieser schnitt einen der Silmarilli aus Morgoth´ Krone. Auf der Flucht wurden sie von einem ungeheuren Werwolf, der Morgoth diente, angefallen. In dem Kampf wurde Huan getötet und Berens Hand, die den Silmarill hielt, von der Bestie abgebissen. Das Feuer des Steins versengte das Innere des Wolfs, was diesen in qualvolle Raserei versetzte und davon rennen ließ. Lúthien heilte Berens Verletzung und kehrte mit ihm in das Königreich Doriath zurück. Thingol fragte Beren, ob er den geforderten Silmarill mitgebracht habe. Beren erklärte, er hielte ihn in seiner Hand, doch als Thingol den Stein zu sehen verlangte hielt Beren ihm den Armstumpf entgegen und sagte, er hätte seine Hand nicht bei sich. Beeindruckt von diesem Opfermut und motiviert durch Lúthiens und Meliands Fürsprache, gab Thingol seine Zustimmung zu der Eheschließung.
Währenddessen wütete der Werwolf in seinem Wahnsinn in Beleriand und kam so auch nach Doriath. Beren, Thingol und zwei andere Elben machten sich auf die Jagd, um das Ungeheuer zu töten und das Königreich zu schützen. Bei dem Kampf wurde Beren tödlich verletzt und starb in den Armen Lúthiens. Es heißt, dass sie ihm aus Liebe in das Königreich von Mandos folgte, des Vala, der die Seelen der Toten empfängt und in dessen Gärten die des Lebens müde gewordenen Elben Ruhe finden. Es gelang ihr, Mandos zu bewegen, dass er Beren noch für eine Weile mit ihr nach Mittelerde zurückkehren ließ. Dort lebten sie einige Jahre in ihrem eigenen Waldreich, bis sie schließlich beide starben. Somit war Lúthien die einzige Elbin, die jemals wirklich gestorben ist, wie ein Mensch. Sie (nicht ihre Ur-Urenkelin Arwen) opfert ihre eigene Unsterblichkeit, um ihren Geliebten zu retten.
Berens Stein war aus dem toten Werwolf geschnitten worden. Als der Fluch der Silmarilli die Noldorprinzen dazu brachte, seine Herausgabe zu fordern, wurden Thingol und Dior (Lúthiens und Berens Sohn) ermordet. In den Kämpfen, die daraus folgten, wurde das Schloss Menegroth völlig verwüstet und das Sindar-Königreich Doriath ging unter. Doch Diors kleine Tochter Elwing konnte von Dienern gerettet und in die Elbenstadt Lindon gebracht werden (mitsamt dem Silmarill). Sie heiratete später Earendil, den „Seefahrer“, der mithilfe des Lichts des Steines den Seeweg nach Valinor fand, wo er die Vala und Maia dazu bewegen konnte, sich der Menschen und Elben in Beleriand zu erbarmen. Melkor/Morgoth wurde endgültig besiegt. Elwing, Earendil und ihre Söhne Elrond und Elros wurden vor die Wahl gestellt, entweder als Elben oder als sterbliche Menschen weiter zu leben. Elwing und Earendil blieben in Valinor, Elrond kehrte als Elb nach Mittelerde zurück und Elros wurde als Mensch der erste König der Insel Númenor, die auf dem halben Weg zwischen Valinor und Mittelerde lag.
Lúthien Tinúviel – Tolkiens stärkste Frauenfigur?
Lúthien stellt sich in ihrer Geschichte als ungewöhnlich willensstarke Frau dar, die ihr Schicksal sehr viel aktiver gestaltet (gestalten darf) als alle anderen Frauen in Tolkiens Werken. Wer hier anführen möchte, dass ja auch Galadriel (Noldor-Prinzessin, Nichte von Féanor), Arwen, (Elronds Tochter, Enkelin von Galadriel und Ur-Urenkelin von Lúthien und Beren), die menschliche Prinzessin Éowyn und Tauriel bedeutende, aktive Rollen spielten, der unterliegt der Verwechselung von Buch und Film. Die Handlungen und Persönlichkeiten der Filmfiguren entspringen der Feder von Drehbuchautoren nach den Vorgaben des Regisseurs Peter Jackson und haben mit ihren literarischen Vorbildern oft nur Eckdaten gemeinsam. Die Elbin Tauriel gibt es bei Tolkien gar nicht. Galadriel, Arwen und Éowyn sind in den Büchern deutlich passiver.
Sich nicht ihrem Schicksal zu fügen, nicht nur liebende Ehefrau und Mutter, pflichtbewusste Erbin irgendwelcher Namen und Titel und gehorsame Untertanin ihres Königs oder / und Ehemannes zu sein, ist für eine von Tolkiens Frauengestalten ungewöhnlich. Sein Werk entstand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, unter dem Einfluss seiner Leidenschaft und Profession für alte europäische Sprachen und Mythen, was sicherlich Auswirkung auf sein dargestelltes Frauenideal hatte.
Die Elbin Lúthien dagegen soll Tolkiens Biografie zufolge sehr nach dem Vorbild seiner Ehefrau gestaltet sein. Wie Beren in Lúthien, verliebte sich Tolkien in seine spätere Frau, als er verletzt und traumatisiert (als Soldat im 1. Weltkrieg) war und sie als Krankenschwester im Krankenhaus für ihn tanzte und sang. Die Liebe zu ihr soll so groß gewesen sein, dass er, als sie vor ihm starb, „Lúthien“ unter ihren Namen auf den Grabstein setzen ließ. Als er ihr folgte, ließen seine Kinder unter seinen Namen „Beren“ schreiben.
Ich vermute, dass die Gestalt der Lúthien deshalb so viel lebendiger gelungen ist als seine anderen Frauengestalten, weil sie nicht nach literarischen Erfordernissen, nach einer Funktion für den Plot, geschaffen wurde, sondern nach einem lebendigen Vorbild, dem der Autor durch Leidenschaft und Anschauung verbunden war.
Heike Korfhage ist eine Fantay-Autorin aus Niedersachsen. Sie veröffentlichte im Isrogant-Universum und arbeitet derzeit am dritten Band ihrer „canis lupus niger“ Reihe.
Hallo!
Ich finde den ersten Beitrag der Blogreihe sehr gut geschrieben. 🙂 Ich habe bisher weder das Silmarillon noch HdR gelesen, sondern kenne nur die Filme, von daher wusste ich noch gar nichts von dieser Figur. Nach den Filmen hätte ich Tauriel als stärkste Frauenfigur eingestuft, aber da die Bücher aus einem anderen Jahrhundert kommen, kann ich mir vorstellen, dass es da anders aussieht. Ich finde es echt interessant, dass diese Liebesgeschichte auf der echten Lebensgeschichte von Tolkien basiert und sie sogar die Namen auf den Grabstein geschrieben haben. :O Vielen Dank für diesen gut recherchierten Artikel! 🙂
LG, Tami/Nebula